1 Einführung
Die Sichtung der Bewerbungsunterlagen gehört zu den Methoden der Personalauswahl, die in beinahe jedem Auswahlverfahren zum Einsatz kommen (Schuler, Hell, Trapmann, Schaar & Boramir, 2007). Dabei handelt es sich um eine besonders wichtige Auswahlmethode, da an dieser Stelle der überwiegende Teil der Bewerber zurückgewiesen wird, ohne dass eine tiefergehende Untersuchung stattfindet, die ggf. in der Lage wäre, eine fehlerhafte Zurückweisung eines Kandidaten als solche zu erkennen und zu korrigieren.
Studien, die sich mit der Praxis der Sichtung von Bewerbungsunterlagen beschäftigen, stellen die Validität des üblichen Vorgehens in Frage (Cole, Feild & Giles, 2003; Cole, Rubin, Feild & Giles, 2007). Nur etwa die Hälfte der Unternehmen legt im Vorfeld der Sichtung von Bewerbungsunterlagen einige verbindliche, anforderungsbezogene Kriterien zur Begutachtung fest (Kanning, 2016a). Die Verantwortlichen messen formalen Kriterien wie z. B. der übersichtlichen Darstellung des Lebenslaufes oder Tippfehlern im Anschreiben eine ebenso große Bedeutung bei wie der Berufserfahrung oder der beruflichen Weiterbildung (Kanning, 2016a). Insbesondere bei der Negativauswahl der Kandidaten dominieren formale Kriterien (Machwirth, Schuler & Moser, 1996). Obwohl die Bewerbungsunterlagen in geringfügigem Maße Informationen über die Ausprägung der „Big Five“ enthalten, werden sie in der Praxis als solche nicht identifiziert (Cole, Feild, Giles & Harris, 2009). Lücken im Lebenslauf erlauben in den meisten Fällen kaum eine Aussage über den Bewerber (Frank & Kanning, 2014), werden in der Praxis aber von den meisten Arbeitgebern zur Negativauswahl herangezogen (Kanning 2016a; Weuster, 2008).
Studien, die sich mit der Validität biographischer Daten beschäftigen, zeigen, dass nur wenige Informationen der Bewerbungsunterlagen aussagekräftig sind. Hierzu zählen die Durchschnittnote von Schulzeugnissen (Baron-Boldt, Funke & Schuler, 1989; Görlich & Schuler, 2007; Roth, Be Vier, Switzer & Schippmann, 1996) sowie die Examensnote nach Abschluss eines Studiums (Cole et al., 2003; Görlich & Schuler, 2007). Die Berufserfahrung hat sich als prognostisch valide im Hinblick auf die berufliche Leistung erwiesen. Jedoch ist die Dauer der Berufserfahrung weniger bedeutsam als deren Vielfalt (Quinones, Ford & Teachout, 1995). Hiermit einher geht eine hohe Validität der Fachkompetenz (Schmidt & Hunter, 1998).
2 Urteilsverzerrungen in der Personalauswahl
Neben Fehlern, die auf einer Nutzung nicht valider Auswahlkriterien beruhen, kann es zu Fehlentscheidungen kommen, die den Charakter einer stereotypen Personenwahrnehmung besitzen. Seit vielen Jahren beschäftigt sich die Forschung mit der Frage, inwieweit Bewerber aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Personengruppen stereotyp wahrgenommen und diskriminiert werden. Metanalysen legen nahe, dass insbesondere Afroamerikaner und Lateinamerikaner im Vergleich zu anderen ethnischen Personengruppen in den USA von einer Diskriminierung betroffen sind (Dean, Roth & Bobko, 2008; Foldes, Duehr & Ones, 2008; Huffcutt & Roth, 1998). Stereotype Vorstellungen basieren aus Sicht der Social Identity Theorie (Tajfel, 1978; Tajfel & Turner, 1986) auf Kategorisierungsprozessen, die dazu führen, dass Menschen primär nicht als Individuen, sondern als Mitglieder sozialer Gruppen wahrgenommen werden. Dabei werden zum einen die Gemeinsamkeiten innerhalb einer Gruppe und zum anderen die Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen akzentuiert. Die Inhalte des Stereotyps können durch bloße Zuschreibung, aber auch durch tradierte Rollenbilder geprägt werden (Fiske & Taylor, 1991; King, Madera, Hebl, Knight & Mendoza, 2006; Tajfel, 1978; Tajfel & Turner, 1986). Überwiegt im Stereotyp die Zuschreibung negativer Eigenschaften, so sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Vertreter der Gruppe positiv bewertet wird. Bei Gruppen mit positiver Zuschreibung verhält es sich spiegelbildlich. Zudem spielt die quantitative Verteilung bestimmter Personen eine Rolle. Wenn beispielsweise in einer Berufsgruppe sehr viele Männer oder sehr viel Afroamerikaner anzutreffen sind, so erscheinen Vertreter dieser Gruppe stereotyp als geeigneter für einen entsprechenden Beruf (Fiske & Taylor, 1991; Schein, 2001; Watson, Appiah und Thornton, 2011).
Eine Voraussetzung für das Auftreten stereotyper Entscheidungen in der Personalauswahl ist, dass Entscheidungsträger entsprechende Stereotype aktivieren. Hierzu benötigen sie Informationen über die Zugehörigkeit der Bewerber zu sozialen Gruppen. Im Auswahlprozess kann eine solche Aktivierung von Stereotypen durch sehr unterschiedliche Informationen ausgelöst werden. Hierzu zählen beispielsweise visuelle Hinweisreize. Vielfach belegt wurde beispielsweise, dass gutaussehende Bewerber nach der Sichtung der Bewerbungsunterlagen mit größerer Wahrscheinlichkeit zum Einstellungsinterview eingeladen werden als weniger gut Aussehende (z. B. Schuler & Berger, 1979; Watkins & Johnston, 2001). Menschen mit maskulinem Körperbau (groß und breitschultrig) wird im Einstellungsinterview eine höhere Führungskompetenz bescheinigt als Bewerbern ohne entsprechende Attribute (Sczesny & Stahlberg, 2002). Übergewichtige Bewerber (Giel et al., 2012) werden systematisch negativer bewertet. Neben visuellen Hinweisreizen spielen auditive Informationen eine Rolle. Mehrfach konnte belegt werden, dass Menschen, die mit Akzent sprechen, als weniger qualifiziert erlebt werden (Fuertes, Gottdiener, Martin, Gilber & Giles, 2012; Rakic, Steffens & Mummendey, 2011). Doch selbst wenn keine visuellen Informationen über einen Bewerber vorliegen, weil die Bewerbungsunterlagen kein Lichtbild enthalten und auch noch kein persönlicher Kontakt zwischen Bewerber und Arbeitgeber stattgefunden hat, werden in den Bewerbungsunterlagen Informationen vermittelt, die Stereotype aktivieren können. Hierbei handelt es sich z. B. um Hinweise auf das Geschlecht, das Alter oder den sozioökonomischen Status der Herkunftsfamilie. Wenn Frauen sich in typischen Männerberufen bzw. Führungspositionen bewerben, erscheinen sie vielen Entscheidungsträgern weniger geeignet als männliche Mitbewerber (Koch, D’Mello & Sackett, 2015; Koenig, Eagly, Michell & Ristikari, 2011). Dies gilt insbesondere für sehr gut aussehende Frauen (Braun, Peus & Frey, 2012; Heilmann, 1983), wahrscheinlich, weil sie ihrem Stereotyp nach nicht zu entsprechenden Berufsfeldern passen (Eagly & Karau, 2002; Schein, 2001). Ältere Menschen sind ohne Ansehen ihrer individuellen Kompetenzen in einem Nachteil gegenüber jüngeren Bewerbern, wenn die Stelle Flexibilität und Dynamik voraussetzt. Entgegengesetzt verhält es sich bei Stellen, die Verlässlichkeit erfordern oder mit der Erwartung einer gewissen Seniorität behaftet sind, wie z. B. hohe Führungspositionen (Diekmann & Hirnisey, 2007; Posthuma & Campio, 2009). Hartmann und Kopp (2001) konnten zeigen, dass in den Spitzenpositionen der deutschen Wirtschaft Menschen mit einem großbürgerlichen Familienhintergrund deutlich überrepräsentiert sind, und zwar auch dann, wenn der Effekt der akademischen Ausbildung konstant gehalten wurde.
Mehrere Studien beschäftigen sich mit der Frage, inwieweit bereits der Name eines Menschen Stereotype aktiviert. Schon in den 60er Jahren konnte in schulpsychologischen Studien belegt werden, dass Lehrer mit bestimmten Schülernamen mehr oder weniger positive Assoziationen verbinden. So wurden z. B. die Leistungen von Kindern, deren Namen positive Assoziationen weckten (im engl. z. B. „Rose“) von ihren Lehrern positiver benotet (Harari & McDavid, 1973; McDavid & Harari, 1966). Unter Studierenden mit sehr guten Studienleistungen fand Nelson (1977) signifikant mehr Personen mit positiv bewerteten Namen als mit negativ bewerteten Namen. In den Gruppen der Studierenden mit sehr geringen Leistungen fanden sich keine signifikanten Unterschiede. Eine Befragung von mehr als 2000 Grundschullehrern im Jahr 2009 ergab, dass Verhaltensauffälligkeiten und Leistungsschwäche eher mit Schülern verbunden werden, die Mandy, Chantal, Kevin oder Justin heißen, als mit Vornamen wie Charlotte, Sophie oder Simon (Kube, 2009). Im beruflichen Kontext konnte gezeigt werden, dass Frauen, die nach einer Eheschließung einen Doppelnamen führen, mit geringerer Wahrscheinlichkeit eingestellt werden als Frauen mit einfachem Familiennamen. Die Entscheidungsträger assoziieren mit Doppelnamen u. a. eine geringere Kompetenz und höhere Fürsorglichkeit (Noordewier, van Horen, Ruys & Stapel, 2010). Laham, Koval und Alter (2012) konnten zeigen, dass Menschen mit kurzen und einfach auszusprechenden Familiennamen positiver bewertet werden und in signifikant stärkerem Maße in höheren hierarchischen Positionen anzutreffen sind. Bewerber, deren Namen ausländisch klingen, haben geringere Chancen, zum Einstellungsinterview eingeladen zu werden (Kaas & Manger, 2010). Bewerber mit asiatisch oder europäisch klingenden Namen waren in einem Experiment von King, Madera, Hebl und Knight (2006) in einem Vorteil gegenüber Bewerbern mit afroamerikanischem Namen. Selbst wenn die Hautfarbe des Bewerbers bekannt war, klärte der Name noch zusätzliche Varianz auf. Weist ein Bewerber im Experiment einen typisch englischen Namen auf, so erscheint er den Beurteilern sehr viel eher als qualifiziert, mit wichtigen Kunden eines Unternehmens zu arbeiten als Bewerber mit afroamerikanischen Namen (Watson, Appiah & Thornton, 2011).
Studien aus dem deutschsprachigen Raum, die sich mit Namensstereotypen in der Personalauswahl beschäftigen, sind äußerst selten und beziehen sich entweder auf den Effekt ausländisch klingender Namen (Kaas & Manger, 2010) oder nutzen den Namen im Experiment lediglich dazu, das Geschlecht der Bewerber zu manipulieren, wobei innerhalb des Geschlechts der Name nicht variiert wird (z. B. Braun, Peus & Frey, 2012). Die vorliegende Studie setzt an diesem Punkt an. Zum einen sollen Effekte, die von weiblichen und männlichen Namen im Zuge der Vorauswahl von Bewerbern ausgehen, untersucht werden. Zum anderen nehmen wir dabei einen Aspekt des Namens in den Blick, der in der bisherigen Personalauswahlforschung experimentell nicht untersucht wurde – wahrscheinlich weil er im amerikanischen Kulturkreis kaum eine Rolle spielt. Es geht um die Rolle von Adelsprädikaten.
In Deutschland leben mehr als 800.000 Menschen mit einem Adelsprädikat (Herrmann, 2015). Sie stellen damit eine durchaus relevante Personengruppe auf dem Arbeitsmarkt dar. Unter einem Adelsprädikat versteht man in Deutschland vor allem Präpositionen wie „von“, „zu“ oder „von und zu“, die seit der Abschaffung der Adelsprivilegien in der Weimarer Republik Bestandteil des Familiennamens vormals adeliger Familien sind (Lüdemann, 2008). Bis ins 20. Jahrhundert hinein förderte ein Adelsprädikat die berufliche Karriere, insbesondere in der Kirche, der öffentlichen Verwaltung und dem Militär (Rolzhäuser, 2014). Hartmann und Kopp (2001) konnten zeigen, dass ein ähnlicher Effekt auch heute in Bezug auf Vorstände und Aufsichtsräte von Großunternehmen in Deutschland existiert. Während in der Gesamtbevölkerung etwa 1 Prozent der Bundesbürger über ein Adelsprädikat verfügen, sind es in der untersuchten Stichprobe 8 Prozent. Dieser Effekt kann gleichzeitig durch verschiedene Faktoren begründet sein. Es könnte daran liegen, dass die Betroffenen im Mittelwert eine höherwertige schulische und berufliche Ausbildung genossen haben, über nützlichere Netzwerke verfügen, die bei der Besetzung von Spitzenpositionen in der Wirtschaft eine wichtige Rolle spielen, selbstsicherer auftreten oder schon aufgrund ihres Namens eine positive Urteilsverzerrung bei den für die Personalauswahl verantwortlichen Personen auslösen. Letzteres lässt sich experimentell untersuchen, indem die Informationen über den Bildungshintergrund konstant gehalten und nur die Existenz eines Adelsprädikats systematisch variiert wird. Dies ist in der vorliegenden Studie der Fall. Sie führt somit das Thema der Studie von Hartmann und Kopp (2001) fort, indem sie untersucht, inwieweit der Vorteil, den Personen mit Adelsprädikat auf dem Arbeitsmarkt haben, auf Urteilsverzerrungen der Entscheidungsträger im Vorauswahlprozess zurückgehen. Bisher liegen weder zu diesem Thema, noch zu den Inhalten von Stereotypen bezogen auf Adelsprädikate Untersuchungen vor.
Die bislang vorliegenden Studien zu verzerrenden Urteilseffekten von Namen in der Personalauswahl beschränken sich auf die Feststellung des Phänomens (Kaas & Manger, 2010; King, Madera, Hebl & Knight, 2006; Noordewier, van Horen, Ruys & Stapel, 2010; Watson, Appiah & Thornton, 2011) und lassen die Frage nach möglichen Moderatoren unbeantwortet. Letzteres ist aber insbesondere für die Praxis von Bedeutung, wenn es um die Frage geht, wie man sich vor entsprechenden Urteilsverzerrungen schützen kann. Praktiker vertrauen offenbar in sehr starkem Maße darauf, dass sie aus ihrer eigenen Berufserfahrung heraus in der Lage sind, andere Menschen im Personalauswahlprozess gut einschätzen zu können. Kanning und Thielsch (2015) konnten beispielsweise zeigen, dass Berufspraktiker im Personalwesen davon ausgehen, dass sie ihre Arbeitsaufgaben weitaus überwiegend durch individuelle Erfahrung erfolgreich bewältigen. Im Vergleich dazu erscheint ihnen die akademische Ausbildung viel weniger bedeutsam (60 % vs. 28 %). Die große Diskrepanz, die zwischen den Empfehlungen der Forschung und der Realität der Personalauswahl liegt (z. B. Kanning 2015b, 2016a), passt zu diesem Bild. Wer von sich selbst glaubt, vor allem durch Erfahrung zu einem guten Personaldiagnostiker zu werden, der orientiert sich in seinem Handeln folgerichtig auch nicht stark an Forschungsergebnissen. Studien, die sich mit der Bedeutung des Namens in der Personalauswahl beschäftigen, arbeiten durchweg mit Berufspraktikern und finden entsprechende Verzerrungseffekte. Offenkundig verhindert die Erfahrung nicht das Auftreten der Verzerrungseffekte. Allerdings könnte es sein, dass die Erfahrung einen relativen Schutz bietet. Personen ohne Berufserfahrung könnten größeren Urteilsverzerrungen unterliegen als Personen mit Berufserfahrung. Dieser Punkt wird ebenfalls im Rahmen der vorliegenden Studie untersucht.
3 Hypothese und Fragestellung
Die Studie verfolgt das Ziel, erstmals den Einfluss von Adelsprädikaten auf die Bewertung von Bewerbern bei der Sichtung von Lebensläufen zu untersuchen. Die Studie folgt einem Experimentalplan, bei dem die Inhalte eines imaginären Lebenslaufes konstant gehalten werden. Variiert wird der Name des Bewerbers (mit vs. ohne Adelsprädikat). Vor dem Hintergrund der bisherigen Erkenntnisse wird erwartet, dass sich ein Adelsprädikat positiv auf die Bewertung der Person auswirkt. Um etwaige Effekte des Geschlechts der Bewerber abschätzen zu können, wird zusätzlich das Geschlecht der Bewerber variiert. Zu guter Letzt wird untersucht, inwieweit die Erfahrung der Entscheidungsträger Einfluss auch die Bewertung der Bewerber nimmt. Da zu den beiden zuletzt genannten Themen bislang keine Erkenntnisse vorliegen, werden keine Hypothesen, sondern Fragestellungen formuliert.
Hypothese 1: Bewerbungen mit Adelsprädikat werden nach der Sichtung ihres Lebenslaufes von den Beurteilenden positiver bewertet als Bewerber ohne Adelsprädikat.
Fragestellung 1: Werden weibliche Bewerber (mit vs. ohne Adelsprädikat) nach der Sichtung ihres Lebenslaufes anderes bewertet als männliche Bewerber (mit vs. ohne Adelsprädikat)?
Fragestellung 2: Wirkt sich die Erfahrung der Beurteiler in der Personalauswahl auf die Bewertung der Bewerber (mit vs. ohne Adelsprädikat) aus?
4 Methode
Design und Materialien: Die Untersuchung erfolgte in Form eines Online-Experiments mit drei unabhängigen Variablen, die jeweils zweifach gestuft waren. In einem ersten Schritt wurde den Probanden per Zufall einer von vier Lebensläufen eines fiktiven Bewerbers vorgelegt. Um Attraktivitätseffekte zu vermeiden, wurden keine Bewerbungsfotos eingesetzt. Bis auf den Namen des Bewerbers waren alle Lebensläufe identisch (siehe Anhang). Über den Namen des Bewerbers wurden die ersten beiden unabhängigen Variablen – Adelsprädikat und Geschlecht des Bewerbers – manipuliert. Bei dem Bewerber handelte es sich entweder um einen Mann oder eine Frau, die entweder ein Adelsprädikat trug oder nicht: Alexander von Löwenstein, Viktoria von Löwenstein, Andreas Müller, Claudia Müller. Die dritte unabhängige Variable wurde quasi-experimentell manipuliert. Sie ergab sich aus den Antworten der Probanden und bezog sich auf die Frage, ob berufliche Erfahrungen im Bereich der Personalauswahl vorlagen oder nicht (s. u.). Die Sichtung des Lebenslaufes wurde mit folgenden Worten instruiert: „Stellen Sie sich bitte vor, Sie wären der/die Personalverantwortliche eines mittelständischen Medienunternehmens. Dort haben Sie eine Einstiegsstelle im Bereich Online-Marketing zu vergeben. Bitte klicken Sie nun auf den Link und lesen sich den Lebenslauf sorgfältig durch.“ Für das Durchlesen des Lebenslaufes hatten die Probanden beliebig viel Zeit. Danach mussten sie einen Button drücken, um zur eigentlichen Befragung zu gelangen, die mit folgender Instruktion eingeleitet wurde: „Nachdem Sie nun den Lebenslauf angeschaut haben, bitten wir Sie, die Person, die sich bei Ihnen beworben hat zu beurteilen.“ Es folgten 13 Items, welche die wahrgenommenen Eigenschaften des Bewerbers beschrieben haben (Intelligenz, Kommunikationsfähigkeit, Teamfähigkeit, Kreativität, Sozialkompetenz, Pünktlichkeit, Leistungsbereitschaft, Durchsetzungsfähigkeit, Freundlichkeit, Führungsfähigkeit, Ehrlichkeit, Organisationsfähigkeit, Zuverlässigkeit). Zusätzlich wurde nach der grundlegenden Eignung für die Stelle gefragt. Bei der Auswahl der Attribute wurde darauf geachtet, ein möglichst breites Spektrum praxisrelevanter Kriterien abzudecken, deren Struktur später mit Hilfe einer Faktorenanalyse überprüft wurde (vgl. King et al., 2006). Zur Bewertung stand jeweils eine fünfstufige Skala zu Verfügung (1 = sehr gering; 5 = sehr hoch). Alternativ konnte jeweils auch „weiß nicht“ ausgewählt werden. Danach folgten zwei Fragen, bei denen jeweils zwischen „nein“ oder „ja“ zu wählen war. Die erste dieser beiden Fragen erfasste, ob man den Bewerber zum Einstellungsinterview einladen würde. Die zweite Frage erfasste die Einschätzung, ob man den Bewerber wahrscheinlich einstellen würde. Danach folgten Fragen zur Demographie: Alter (in Jahren), Geschlecht (weiblich vs. männlich), höchster Bildungsabschluss (Hauptschule, Realschule, Fach-/Abitur, Studium, Berufsausbildung, Sonstiges), berufliche Tätigkeit (Schüler, Student, Azubi, Selbstständig, Angestellter, Beamter, Rentner, Sonstiges) sowie eine Frage, ob man beruflich u. a. mit der Auswahl von Bewerber zu tun habe (nein vs. ja) und wenn ja, wie viele Bewerbungsunterlagen man pro Jahr in etwa sichtet (offene Angabe).
Datenerhebung: Der Link zur Studie wurde über verschiedene soziale Netzwerke (Facebook, Xing und LinkedIn) unter dem Titel „Wie interpretieren Sie eigentlich einen Lebenslauf?“ verbreitet. Zusätzlich wurden auf den Internetseiten der Zeitschrift „Psychologie heute“ ein Hinweis geschaltet. Die Teilnahme war freiwillig. Eine Vergütung wurde nicht gezahlt. Sobald ein Proband den Link zum Fragebogen bediente, wurde er per Zufall einer der vier Experimentalbedingungen (nicht adelig/adelig, weiblich/männlich) zugeordnet, ohne zu erfahren, dass es andere Untersuchungsbedingungen gab. Der Link konnte nur einmal von einem Rechner genutzt werden, um Mehrfachteilnahmen zu verhindern.
Stichprobe: Der Fragebogen wurde von 776 Personen vollständig ausgefüllt (54.3 % weiblich, 45.7 % männlich). Das Alter der Befragungsteilnehmer variierte zwischen 18 und 70 Jahren (M = 34.48, SD = 10.49), wobei sich überwiegend Menschen mit höherem Bildungsgrad an der Studie beteiligten (0.4 % Hauptschulabschluss, 1.5 % Realschulabschluss, 14.8 % Fach-/Abitur, 71.5 % Studium, 11.7 % Sonstiges). Die meisten von ihnen waren zum Zeitpunkt der Befragung berufstätig als Angestellte (57.1 %), Selbstständige (13.9 %) oder Beamte (1 %). Weitere 23 Prozent studierten und 0.3 Prozent befanden sich im Ruhestand (4.4 % Sonstige). 525 Personen gaben an, über Erfahrungen mit der Sichtung von Bewerbungsunterlagen zu verfügen. Die Anzahl der von ihnen gesichteten Bewerbungsunterlagen schwankte zwischen 1 und 9000 pro Jahr (M = 386.94, SD = 992.51).
5 Ergebnisse
In einem ersten Schritt wurde zunächst die Faktorenstruktur der 13 Eigenschaften mit Hilfe einer explorativen Faktorenanalyse (Hautpkomponentenanalyse, Varimaxrotation) berechnet. Dabei ergaben sich drei Faktoren, die zusammen 61 Prozent der Varianz aufklären und eine für die Forschung hinreichend gute innere Konsistenz aufweisen (Lienert & Raatz, 1998; vgl. Tabelle 1): Professionalität (Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, Organisationsfähigkeit, Leistungsbereitschaft, Intelligenz), Soziabilität (Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Sozialkompetenz, Kreativität, Freundlichkeit) und Offensivität (Durchsetzungsfähigkeit, Führungsfähigkeit).
In einem zweiten Schritt wurde eine multifaktorielle, multivariate Kovarianzanalyse mit drei unabhängigen Variablen – Adelsprädikat des Bewerbers (nein vs. ja), Geschlecht des Bewerbers (weiblich vs. männlich) und Erfahrung des Beurteilenden mit der Sichtung von Bewerbungsunterlagen (nein vs. ja) – durchgeführt. Als abhängige Variablen dienten die Einschätzungen bezüglich der drei Eigenschaftsfaktoren, die wahrgenommene Eignung der Bewerber, die Einladung zum Einstellungsinterview sowie die Entscheidung, ob man den Bewerber wahrscheinlich einstellen würde. Als Kovariate wurde das Geschlecht der Beurteiler berücksichtigt.
Auf der Ebene der multivariaten Effekte wurde lediglich der Einfluss der Personalauswahlerfahrung signifikant (F6/537 = 4.08, p < .01, eta2 = .04). Der multivariate Effekt des Adelsprädikats verfehlt jedoch nur knapp das gängige Alphaniveau von 5 Prozent (F6/537 = 1.99, p = .06, eta2 = .02).
Auf der Ebene der univarianten Effekte ließen sich mehrere Haupteffekte belegen (Tab. 2). Bezogen auf das Adelsprädikat fanden sich zwei signifikante Effekte. Bewerber mit Adelsprädikat wurden als offensiver erlebt (F1/542 = 4.63, p < .05, eta2 = .01). Zudem würden die Befragten sie eher einstellen als nicht-adelige Bewerber (F1/542 = 5.76, p < .05, eta2 = .01). Dies steht in Einklang mit Hypothese 1. Bezogen auf das Geschlecht konnte ein signifikanter Unterschied gefunden werden: Kam die Bewerbung von einer Frau, so wurde die Person als professioneller eingeschätzt (F1/542 = 6.19, p < .05, eta2 = .01). Die Erfahrung der beurteilenden Personen wirkte sich bei fünf Variablen signifikant aus. Erfahrene Beurteiler schätzten die Soziabilität (F1/542 = 6.3, p < .05, eta2 = .01) sowie die Offensivität (F1/542 = 20.12, p < .001, eta2 = .04) signifikant geringer ein. Darüber hinaus halten sie die Person für weniger geeignet (F1/542 = 5.89, p < .05, eta2 = .01), würden sie mit geringerer Wahrscheinlichkeit zum Einstellungsinterview einladen (F1/542 = 8.59, p < .01, eta2 = .02) und einstellen (F1/542 = 8.77, p < .01, eta2 = .02). Die Kovariate Geschlecht der Beurteiler ergab in zwei Fällen einen signifikanten Effekt, und zwar bezogen auf die Offensivität der Bewerber sowie die Einladung zum Einstellungsinterview. Beurteilerinnen schätzen die Offensivität höher ein (Mweiblich = 3.28, SD = 0.83; Mmännlich = 3.03, SD = 0.83, p < .05, eta2 = .01) und würde eher zum Einstellungsinterview einladen (Mweiblich = .81, SD = 0.39; Mmännlich = .71, SD = 0.46, p < .05 eta2 = .01).
Neben den Haupteffekten konnten ein Interaktionseffekt identifiziert werden und zwar in Bezug auf die Bereitschaft, den Bewerber einzustellen (F1/542 = 4.03, p < .05, eta2 = .01). Sofern es sich um Bewerberinnen handelte, wurden sie signifikant positiver bewertet, wenn sie ein Adelsprädikat trugen im Vergleich zu nicht-adeligen Bewerberinnen (Abb. 1; p < .05). Bei Bewerbungen männlicher Personen wirkte sich das Adelsprädikat nicht auf die Bewertung aus. Sämtliche Effekte sind nach Cohen (1988) als klein zu bewerten. Im Anschluss wurde überprüft, ob das Ausmaß der Berufserfahrung in einem Zusammenhang mit der Beurteilung der Bewerber stand.
Hierzu wurden für diejenigen Menschen, die Erfahrungen mit der Sichtung von Bewerbungsunterlagen aufwiesen, Produkt-Moment-Korrelationen zwischen der Menge der von ihnen pro Jahr gesichteten Unterlagen und der Bewertung der Bewerber berechnet. In keinem einzigen Fall ergab sich ein signifikanter Zusammenhang (p > .05).
6 Diskussion
Die vorliegende Studie konnte mehrere Urteilsverzerrungen im Hinblick auf Adelsprädikate sowie bezüglich des Geschlechts der Bewerber nachweisen. Dies gilt sowohl für Beurteiler mit Erfahrung als auch für unerfahrene Beurteiler. Die Effektstärken sind insgesamt betrachtet aber nur gering (Cohen, 1988)
In Einklang mit Hypothese 1 ließen sich bezogen auf Adelsprädikate in zwei Fällen deutliche Urteilsverzerrungen belegen:
• Adelige Bewerber werden als offensiver wahrgenommen als nicht-adelige Bewerber.
• Bewerber mit Adelsprädikat erzeugen bei den Beurteilern in stärkerem Maße die Erwartung, dass sie später eingestellt werden als Bewerber ohne Adelsprädikat.
Warum sich nur bei diesen abhängigen Variablen entsprechende Urteilsverzerrungen belegen ließen, ist unklar. Möglicherweise sind hierfür bestimmte Inhalte eines Adelsstereotyps verantwortlich, die bislang noch nicht erforscht wurden. Betrachten wir die historische Rolle des Adels in Deutschland, der als Bevölkerungsgruppe überproportional stark in Führungspositionen der Gesellschaft vertreten war (Rolzhäuser, 2014), so ist nachvollziehbar, dass zum Adelsstereotyp eine hohe Offensivität ebenso gehört wie die Erwartung, dass sie nicht arbeitslos sind, also erfolgreich Auswahlverfahren durchlaufen. Dies bedeutet aber nicht zwangsläufig auch, dass sie für die Stelle geeignet sind. Möglicherweise vermutet man, dass sie in starkem Maße aufgrund von Vererbung, Status oder Vetternwirtschaft in berufliche Funktionen eingesetzt werden. Sind dies wichtige Bestandteile eines Adelsstereotyps, so verwundert es nicht, dass man Bewerbern mit Adelsprädikat auch keine höhere Professionalität bescheinigt. Sie kämen dem Stereotyp zufolge auch unabhängig von ihrer tatsächlichen Professionalität in beruflich erstrebenswerte Positionen. Eine hohe Soziabilität dürfte ohnehin nicht prägend für das Stereotyp des Adels sein, weil zumindest Teile der sozialen Gruppe in früheren Jahrhunderten eher auf Kosten anderer Bevölkerungsgruppen gelebt haben mögen.
Die Frage, ob Menschen mit Adelsprädikat im Mittelwert tatsächlich offensicher auftreten, hier also gar keine Urteilsverzerrung vorliegt oder nicht, kann die Studie nicht beantworten. Es könnte sein, dass Adelige eine bestimmte Sozialisation durchlaufen haben und aufgrund dessen in stärkerem Maße über bestimmte Eigenschaften verfügen. In Anbetracht der Tatsache, dass es in Deutschland etwa 800.000 Menschen mit Adelsprädikat gibt, erscheint es uns allerdings eher unwahrscheinlich, dass nennenswerte systematische Unterschiede in der Sozialisierung gegenüber nicht-adeligen Menschen vorliegen. Dabei ist zu bedenken, dass ein Adelsprädikat heute ja nicht bedeutet, dass die Familie wohlhabend und einflussreich sein muss. Die herausgehobene Position des Adels liegt in vielen Familien oft mehrere Generationen zurück, so dass bei sehr vielen Vertretern nicht viel mehr als das Adelsprädikat übriggeblieben sein dürfte. Die Vorstellung, dass Adelige in Deutschland reich sind, ihren Kindern Privatschulen sowie erstklassige Berufsausbildungen finanzieren und dafür sorgen, dass sie noch dazu einflussreiche Vertreter der Gesellschaft zu ihren Freunden und Bekannten zählen, dürfte wohl für sehr viele Vertreter des Adels in Deutschland nicht Realität entsprechen. Zudem könnte eine entsprechende Sozialisation nicht erklären, warum die Betreffenden mit höherer Wahrscheinlichkeit eingestellt werden, obwohl Offensivität für die ausgeschriebene Stelle gar nicht von Bedeutung war. Alles in allem spricht mithin mehr dafür, dass wir es hier mit einem Stereotyp zu tun haben.
Weibliche Bewerber schneiden in der vorliegenden Studie in zwei Punkten positiver ab als männliche Bewerber (Fragestellung 1). Sie erscheinen den Beurteilern professioneller und profitieren stärker von einem Adelsprädikat als Männer. Ein Interaktionseffekt mit dem Geschlecht der Beurteiler liegt nicht vor. Hierin zeigt sich eine geringfügige Diskriminierung männlicher Bewerber. Zukünftige Studien müssen zeigen, ob es sich hierbei um einen stabilen Effekt handelt. Hinweise auf eine solche Diskriminierung fanden bislang z. B. Williams und Ceci (2014). Medienberichte über ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern sowie die geringere Verbreitung von Frauen in beruflichen Spitzenpositionen vermitteln üblicherweise den Eindruck, dass Frauen einer Diskriminierung im Beruf ausgesetzt sind. Möglicherweise handelt es sich bei der Diskriminierung von Männern um eine überschießende Reaktion auf dieses Phänomen. Um nicht Gefahr zu laufen, Frauen zu diskriminieren, könnten viele Probanden das sprichwörtliche Kind mit dem Bade ausgießen und Männer diskriminieren. Ob dies tatsächlich der Fall ist, kann die vorliegende Studie nicht klären. Hierzu sind weitere Studien notwendig.
Die Personalauswahlerfahrung der Beurteilung spielt insofern eine Rolle, als dass Menschen, die zuvor schon mit der Personalauswahl betraut waren, die Bewerber kritischer beurteilen als unerfahrene Beurteiler (Fragestellung 2). Dies gilt für die wahrgenommene Soziabilität, Offensivität und Eignung für die Stelle, ebenso wie für die Wahrscheinlichkeit, dass der Bewerber zum Einstellungsinterview eingeladen bzw. eingestellt wird. Die kritische Grundhaltung gegenüber den Bewerbern erwächst möglicherweise aus ihrer Rolle, die erfahrene Beurteiler bei der Sichtung der Bewerbungsunterlagen einzunehmen gewohnt sind. Ihre Aufgabe besteht üblicherweise darin, den Pool der Bewerber deutlich zu reduzieren, so dass nur ein sehr kleiner Anteil – üblicherweise nur etwa 10 Prozent der Bewerber (Staufenbiel Institut, 2015) – in die nächste Phase des Auswahlprozesses kommen und beispielsweise zum Einstellungsinterview eingeladen werden. Gibt es sehr viele Bewerbungen, so gilt oft das Prinzip, lieber zu streng als zu nachsichtig zu sein, schließlich kann aus pragmatischen Gründen nur ein kleiner Anteil der Bewerber in einem Interview oder gar einem Assessment Center untersucht werden. Für diese Interpretation spricht auch, dass der Umfang der Erfahrung keinen Einfluss auf die Bewertung nimmt. Ob jemand 20 oder 200 Bewerbungsunterlagen pro Jahr sichtet, verändert nicht seine Rolle im Prozess der selektiven Personalauswahl. In beiden Fällen bleibt die Aufgabe die gleiche, nämlich die Anzahl der Bewerber zu reduzieren. Die Auswahlerfahrung nimmt allerdings keinen Einfluss auf das Auftreten verzerrter Beurteilungen. Weder in Bezug auf das Adelsprädikat, noch in Bezug auf das Geschlecht der Bewerber lässt sich ein Interaktionseffekt der Personalauswahlerfahrung belegen. Erfahrene sowie unerfahrene Beurteiler produzieren also in gleichem Maße verzerrte Einschätzungen der Bewerber. Warum Erfahrung nicht dazu führt, dass die Urteilsverzerrungen verschwinden, hat möglicherweise damit zu tun, dass die Betroffenen kein Feedback über die Qualität ihrer Personalauswahlentscheidungen erhalten. Personalauswahlverfahren werden in der Praxis so gut wie nie empirisch evaluiert (Kanning, 2015b). Fehlbesetzungen fallen daher vor allem dann auf, wenn sie massiv sind und beispielsweise zu einer Kündigung führen. Die viel häufiger zu erwartenden Fehlentscheidungen nach dem Prinzip, dass Bewerber A eingestellt wurde, obwohl Bewerber B die bessere Wahl gewesen wäre, bleiben im Verborgenen. Sollte es tatsächlich einmal zu einer Entlassung eines frisch eingestellten Mitarbeiters kommen, ist zudem fraglich, ob dies auf die Qualität des Auswahlverfahrens attribuiert wird oder ob hier nicht selbstwertschützenden Attributionen der Vorrang eingeräumt wird. Beispielsweise könnte man dem Bewerber die Verantwortung zuschreiben, weil dieser sich im Auswahlverfahren positiv dargestellt habe. Die Tatsache, dass Erfahrung kaum vor Urteilsverzerrungen bei der Einschätzung von Bewerbern schützt, deckt sich mit den Ergebnissen von Wenderdel und Kanning (2008).
Zu bedenken ist allerdings, dass in der Studie nur die Erfahrung, nicht aber die Ausbildung der erfahrenen Beurteiler untersucht wurde. Es könnte sein, dass Personalfachleute, die eine diagnostische Ausbildung genossen haben, weniger stark verzerrt beurteilen. Dies zu untersuchen, ist eine Aufgabe für zukünftige Studien.
Die Interpretation der Befunde ist durch folgende Punkte eingeschränkt: Das Online-Experiment bildet eine reale Auswahlsituation nur ansatzweise ab. Die Probanden erhielten ausschließlich einen Lebenslauf zur Begutachtung. In der Realität sind heute Anschreiben, Fotos und Zeugnisse weiterhin völlig übliche Bestandteile einer Bewerbung (Kanning, 2015b), die Entscheidungsträger in ihre Beurteilung einfließen lassen können. Ob es hierdurch im Alltag zu einer Reduzierung von Urteilsverzerrungen kommt, ist jedoch mehr als fraglich. Die Studien zu verzerrenden Einflüssen des Bewerbungsfotos (z. B. Schuler & Berger, 1979; Watkins & Johnston, 2001) sowie die mehrfach belegte Dominanz formaler Kriterien, deren Validität bestenfalls fragwürdig ist (Kanning, 2016a; Machwirth, Schuler & Moser, 1996), lassen eher das Gegenteil erwarten.
Die beurteilenden Personen haben gewissermaßen „aus dem Bauch heraus“ die Bewerber bewertet. Wünschenswert wäre hingegen, dass bei der Sichtung der Bewerbungsunterlagen klare stellenbezogene Kriterien zur Bewertung der Unterlagen vorliegen. In der Praxis ist dies allerdings die Ausnahme (Kanning, 2016a). Insofern spiegelt das Experiment die Realität gut wieder.
In der Studie ging es sich um eine Einstiegsstelle für Berufsanfänger. Es ist unklar, inwieweit sich die Ergebnisse auf andere Stellen generalisieren lassen. Es ist durchaus denkbar, dass bei herausgehobenen Führungspositionen die Effekte anders ausfallen. Zukünftige Studien sollten dieser Frage nachgehen. In diesem Zusammenhang lassen sich viele weitere Variablen denken, die einen Einfluss nehmen könnten – etwa die Branche oder die Art des Adelsprädikats (Graf, Baron, Prinz etc.). Die Studie ist lediglich ein erster Schritt zur Untersuchung eines sehr komplexen Feldes.
Des Weiteren wäre eine Absicherung der Befunde durch den Einsatz von vielfältigeren Namen jenseits des Adelsprädikats lohnenswert. Bislang ist unklar, ob sich die Befunde auch auf eine breite Vielzahl von Vor- und Zunahmen (mit und ohne Adelsprädikat) generalisieren lassen.
Bislang völlig unbekannt ist, welche Stereotype im Hinblick auf Adelsprädikate in Deutschland überhaupt existieren, wie differenziert sie sind und welche Verbreitung sie haben. Die vorliegende Studie gibt hier nur eine erste Idee. Es ist denkbar, dass Adelsstereotype sowohl positive als auch negative Facetten beinhalten (souverän, wortgewandt, hochnäsig, arrogant etc.), die sich branchen- oder stellenspezifische sehr unterschiedlich zum Vorteil oder Nachteil der betroffenen Bewerber auswirken können.
Zum Schluss stellt sich die Frage, wie die aufgezeigten Urteilsverzerrungen in der Praxis reduziert werden können. Die Qualität eines Auswahlverfahrens beruht zum einen auf der Auswahl und Gestaltung diagnostischer Methoden (z. B. Anforderungsanalyse, Festlegung von Bewertungskriterien, Vieraugenprinzip) und zum anderen auf der Sorgfalt, mit der einzelne Menschen, die im Entscheidungsprozess Verantwortung tragen, diese Methoden umsetzen. Die Urteilsverzerrung bei der Sichtung von Bewerbungsunterlagen könnte reduziert werden, wenn die Arbeitgeber basierend auf einer Anforderungsanalyse eindeutige und valide Bewertungskriterien festlegen. Informationen, die verzerrte Beurteilungen begünstigen, weil sie Stereotype aktivieren, ohne selbst valide zu sein (Geschlecht, Name, ethnischer Hintergrund, Adelsprädikat etc.), sollten möglichst erst gar nicht erhoben werden oder den Beurteilern nicht zugänglich sein. Dies ließe sich z. B. durch die Verwendung anonymisierter Bewerbungsunterlagen realisieren, die nachweislich gängige Urteilsverzerrungen reduzieren (Sachverständigenrat deutscher Stiftungen, 2014). Darüber hinaus sollten alle Beteiligten eine Schulung erfahren, in der sie etwas über Urteilsfehler im Auswahlprozess lernen.
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8 Anhang – Verwendeter Lebenslauf
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. phil. habil. Uwe P. Kanning
Hochschule Osnabrück
Caprivistraße 30a
49076 Osnabrück
DEUTSCHLAND
U.Kanning@hs-osnabrueck